Gesundheitsförderung bei älteren Menschen

«E Guete z’Basel» - ein Partizipationsprojekt mit vielfältigem Lernpotenzial

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Kochgruppen und Mittagstische für ältere Menschen gibt es viele. Was ist anders, wenn ein Angebot von Beginn an partizipativ mit Vertretenden der Zielgruppe konzipiert und umgesetzt wird? Das Projektteam, zusammengesetzt aus Forscherinnen der Berner Fachhochschule und Fachpersonen des Gesundheitsdepartements des Kantons Basel-Stadt, gibt Einblick und teilt Lernerfahrungen im Interview.
18.08.2023, 07:27

Wie sieht ein Angebot zur Förderung der ausgewogenen Ernährung im Alter aus, wenn es partnerschaftlich in einem Partizipationsprozess zwischen Expert*innen aus der Wissenschaft, Fachpersonen aus der Praxis und älteren Menschen entwickelt wird? Welcher Mehrwert entsteht durch diesen doch recht aufwendigen Prozess?

Diese Frage versuchen wir in diesem Bericht über das Projekt «E Guete z’Basel» zu beantworten. «Wir», das sind die Forscherinnen Karin Haas und Franziska Scheidegger von der Berner Fachhochschule (BFH), Jacqueline Fürer-Kugel und Marco Oesterlin als Mitarbeitende des Gesundheitsdepartements Basel-Stadt (GD BS) und Vertreterin der Praxis, sowie Claudia Kessler von Public Health Services (PHS), welche im Auftrag von Gesundheitsförderung Schweiz eine der Koch- und Tischrunden im Begegnungszentrum CURA des Basler Claraspitals besuchen durfte. Sie stiess an diesem Montag im Juni auf eine kleine, aber äusserst motivierte und engagierte Teilnehmergruppe. 2 Männer und 4 Frauen im Alter zwischen 65 und geschätzt 80 Jahren wurden von einem Profi-Koch und der Fachfrau für Gesundheitsförderung im Alter unterstützt. Die multikulturelle Gruppe entwickelte ein ausgewogenes, saisonales und vor allem köstliches 3-Gang Menu.

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Foto: C. Kessler, Juni 2023

    
Das Projekt in Kürze

Das Projekt wurde 2019 lanciert mit dem Ziel, ältere Menschen, die bisher als «schwer erreichbar» galten, für das Thema ausgewogene Ernährung zu interessieren und in ihrer Autonomie zu stärken. Insbesondere die alleinstehenden und sozial isolierten älteren Menschen und ganz speziell auch Männer sollten über den partizipativen Prozess eingebunden werden. Das niederschwellige Angebot, welches es zu entwickeln galt, sollte die Zielgruppe befähigen, eine ausgewogene Ernährung selbstverantwortlich und genussvoll umzusetzen und dem Risiko einer Mangelernährung entgegenzuwirken. Als dreijähriges Innovationsprojekt wurde es von der Forschungsabteilung Ernährung und Diätetik der BFH gemeinsam mit dem GD BS als Umsetzungspartner entwickelt und umgesetzt. Es wird im Rahmen der Projektförderung von Gesundheitsförderung Schweiz finanziell unterstützt (Themenschwerpunkt Ernährung/Modul B). Nach einer pandemiebedingten Verlängerung läuft das Projekt noch bis Ende 2023. Aktuell laufen intensive Bestrebungen, es ab 2025 im Rahmen des Kantonalen Aktionsprogramms und der Aktivitäten des Gesundheits-departements nachhaltig zu verankern.
    
    

Claudia Kesser (CK): Zuerst interessiert es mich, wie Euer partizipativer Prozess aussieht. Welches waren die wichtigsten Etappen und welche Erfahrungen habt ihr dabei gemacht?

Projektteam (Karin Haas, Franziska Scheidegger, Jacqueline Fürer-Kugel, Marco Oesterlin):

1. Projektjahr: Vertrauen schaffen – für und mit der Zielgruppe planen:

  • Im ersten Projektjahr haben wir ein möglichst niederschwelliges Ernährungsangebot gemeinsam mit Vertretenden der Zielgruppe in einem vertrauensaufbauenden Prozess entwickelt. Zusätzlich haben wir Feedback von Stakeholdern aus dem Gesundheits- und Sozialbereich miteinfliessen lassen. Insgesamt benötigten wir dafür acht Workshops (geplant waren ursprünglich nur drei).
  • Die ersten Workshops mit der Zielgruppe wurden getrennt nach Geschlecht durchgeführt, um sicherzustellen, dass die Anliegen von Frauen und Männern für die Schaffung des Angebots genügend berücksichtigt werden.  
  • Die Inhalte der Workshops sahen wie folgt aus:
       
    • Zu Beginn des Projektes wurde gemeinsam mit den Vertretenden der Zielgruppe und Stakeholdern Strategien diskutiert, wie die Zielgruppe des Angebots am besten erreicht werden kann.
    • In arbeitsintensiven Workshops unter der Leitung des Projektteams wurde die Idee für das Angebot – die Gründung einer Koch- und Tischrunde «E Guete z’Basel» – von den Zielgruppen-Vertretenden selbst ins Leben gerufen.
    • Die detaillierte Ausarbeitung der Koch- und Tischrunde erfolgte durch das Projektteam gemeinsam mit Vertretenden der Zielgruppe. Neben dem gemeinsamen Kochen und Essen spielt dabei auch die Vermittlung von Kompetenzen rund um das Thema Ernährung im Alter eine wichtige Rolle.

Um Stärken und Schwächen bzw. Fehlentwicklungen in dieser Phase zu identifizieren, wurden die Workshops evaluiert und entsprechende Anpassungen vorgenommen.

2. und 3. Projektjahr – Implementierung und Durchführung der Koch- und Tischrunde «E Guete z’Basel»:

  • Ein Teil der älteren Personen, die das Angebot mitentwickelt haben, nahmen auch an den Koch- und Tischrunden teil. Über den Verlauf der Zeit haben einige von ihnen die Runde wieder verlassen und neue Teilnehmende sind dazugekommen. Das Angebot wurde mit grosser Unterstützung des GD BS organisiert und durchgeführt. Damit es auch wirklich den Bedürfnissen der Zielgruppe entspricht, wurde die Möglichkeit geschaffen, niederschwellig Rückmeldung zu geben.
  • Eine wichtige Lernerfahrung bei der Rekrutierung der Zielgruppe: Schüsselpersonen aus Organisationen (Hausärzt*innen, Spitex, Pro Senectute, Verantwortliche von Quartiertreffpunkten, Physiotherapeut*innen, Vereine) waren für die Rekrutierung sehr wichtig. Diese haben als Vertrauenspersonen einen engen Draht zur Zielgruppe.

   
CK: Sicher habt ihr viele Höhepunkte erlebt. Was hat gut geklappt, vielleicht besser als erwartet?

Projektteam:

  • Die meist angenehme Atmosphäre und Stimmung bei der Mahlzeitenzubereitung und während des gemeinsamen Essens hat uns immer wieder positiv gestimmt.
  • Jede/jeder hat die Aufgaben übernommen, die sie/er gerne erledigte oder gut konnte, sei es Gemüse rüsten, Tisch decken, darauf achten, dass die Küche aufgeräumt ist oder einfach mit anderen einen netten Plausch zu haben.
  • Die Zielgruppen, die wir ansprechen wollten, haben wir – nebst anderen Teilnehmenden – erreicht: Alleinlebende, hochaltrige Menschen ≥80 Jahren, Männer, Menschen mit eingeschränkter Mobilität.
  • Während der Koch- und Tischrunden haben wir auch Wissen und praktische Tipps rund um Ernährung und Essenszubereitung vermittelt, ergänzt durch kurze schriftliche Zusammenfassungen. Zum einen wurde diese Aufgabe vom Projektteam mit Unterstützung von Studierenden des Bsc Ernährung und Diätetik der BFH übernommen. Zum anderen hat auch Markus Biedermann stark zum Gelingen beigetragen. Als erfahrener und engagierter Koch und dipl. Gerontologe konnte er mit seinen Kompetenzen, seiner gewinnenden Art und charismatischen Persönlichkeit die Teilnehmenden motivieren und ihre Koch- und Ernährungskompetenzen fördern.
  • Erste wichtige Erkenntnisse/Ergebnisse:
        
    • Die Teilnehmenden haben ein Bewusstsein für die Wichtigkeit von Protein im Alter erlangt.
    • Praktisch alle gaben an, dass ihre Teilnahme aufgrund der sozialen Kontakte und des Zugehörigkeitsgefühls einen positiven Einfluss auf ihre Lebensqualität hatte.
  • Wir hatten grosses Glück mit dem Standort (Cura). Den geeigneten Ort zu finden für ein weiteres Quartier in Basel war sehr herausfordernd. Es gibt wenig geeignete Orte mit geräumiger Küche – wenn, dann findet man sie in der Regel in Quartiertreffpunkten oder Alterssiedlungen.
  • Da es in Basel montags keinen Mittagstisch für ältere Menschen gibt, konnte mit der Koch- und Tischrunde eine Lücke geschlossen werden.

    
CK: Seid ihr im Projekt auch auf unerwartete Schwierigkeiten gestossen?

Projektteam:

  • Die grösste unerwartete Herausforderung war die Corona-Pandemie, welche zum Schutz der Zielgruppe zu Verzögerungen in der Durchführung des Projekts geführt hat.
  • Mit acht Workshops ist die Anzahl an Treffen mit der Zielgruppe viel höher ausgefallen als zu Projektbeginn geplant. Diese Investition an zeitlichen und personellen Ressourcen war jedoch nötig und wertvoll, insbesondere im Hinblick auf den Beziehungsaufbau mit der Zielgruppe.
  • Auch die Umsetzung der Koch- und Tischrunden hat im Vergleich zur ursprünglichen Planung zusätzliche Ressourcen erfordert:
        
    • Die höchste Stufe der Partizipation (Selbstorganisation), welche angestrebt wurde, erwies sich aus Sicht der Teilnehmenden nicht unbedingt als wünschenswert; sie haben explizit Unterstützung durch das Projektteam gewünscht.
    • Bei jeder Durchführung der Koch- und Tischrunden war mindestens ein Mitglied des Projektteams präsent.
    • Die Übernahme der Verantwortung und die Selbstorganisation durch die Teilnehmenden für die Aktivitäten rund um den Durchführungstag hat nur ansatzweise stattgefunden. D.h. die Durchführung benötigt noch immer sehr viele personelle Ressourcen des Projektteams. Aktuell machen wir uns deshalb Überlegungen, wie zukünftig die Koch- und Tischrunde ressourcenschonender weiter gestaltet werden kann.
  • Die Umsetzungsphase wurde mit 2 Gruppen gestartet – abwechslungsweise im 2-Wochen-Rhythmus. Eine der beiden Gruppen hat ihre Mitwirkung aber nach der ersten Durchführung bereits gestoppt. Die Gründe dafür konnten leider nur teilweise geklärt werden, da die Gruppe für ein gemeinsames Gespräch nicht mehr zur Verfügung stand.
  • Zusammengefasst kann gesagt werden, dass ein partizipativer Prozess von Beginn an sehr viele zeitliche und personelle Ressourcen benötigt. Unerwartete Schwierigkeiten bei der Umsetzung sind jedoch für alle Beteiligten wichtige Lernprozesse, die eine Partizipation erst ermöglichen.

   
CK: Was könnt ihr anderen KAPs an weiteren Lernerfahrungen mit auf den Weg geben?

Projektteam:

  • Dank des partizipativen Ansatzes wurde ein Angebot kreiert, das den Bedürfnissen der Zielgruppe entspricht und von dem sie gerne Gebrauch machen. Trotz der nicht zu unterschätzenden zeitlichen und personellen Ressourcen hat sich der Mehraufwand für alle Beteiligten gelohnt!
  • Die Idee einer Koch- und Tischrunde und gezielter Vermittlung von Wissen und praktischen Fähigkeiten zur Umsetzung einer genussvollen und ausgewogenen Ernährung ist sicherlich multiplizierbar. Dafür müssen geeignete Räumlichkeiten vorhanden sein. Des Weiteren muss das Konzept für neue Standorte – abhängig von den Rahmenbedingungen – angepasst werden. Dies wird aktuell im Quartiertreffpunkt LoLa gemacht mit den Verantwortlichen vor Ort und Vertretenden der dortigen Zielgruppe, um dem Gedanken der Partizipation gerecht zu werden und die Umsetzbarkeit zu gewährleisten.
  • Für eine erfolgreiche und ressourcenschonendere Implementierung und Durchführung von Koch- und Tischrunden benötigt es neben entsprechenden Räumlichkeiten zwei bis drei ältere Personen, die den Lead übernehmen können und wollen und die auch etwas Kocherfahrung mitbringen. Für die Erreichbarkeit der Zielgruppe sind ein gutes Netzwerk an Multiplikatoren (Hausärzt*innen, Spitex-Mitarbeitenden, Quartierarbeiter*innen etc.) und Geduld zentrale Erfolgsfaktoren. Ebenfalls ist es wichtig, regelmässig die Befindlichkeit und die Bedürfnisse der Teilnehmenden abzufragen und zu prüfen.
  • Weitere Schlüsselergebnisse werden im Evaluationsbericht aufgezeigt, welcher 2024 vorliegen wird.

   
CK: Ich danke euch ganz herzlich für dieses informative Gespräch. Lassen wir zum Schluss noch einige Teilnehmende direkt zu Wort kommen.

Stimmen von Teilnehmenden:

  • «Es ist schon schön, weisst du, irgendwie in der Gruppe drin zu sein und so.»
  • «So wie gesagt, meine grösste Motivation war ja die Gemeinschaft.»
  • «...ich wünsche mir ein Konzept und eine gewisse Leitung dabei. Also, mindestens am Anfang, bis eine Gruppe eingespielt ist.»
  • «Sich wöchentlich zu treffen ist Balsam für die Seele.»

 

Kontaktangaben des Projektteams

Berner Fachhochschule, Departement Gesundheit, aF&E Ernährung & Diätetik

Dr. Karin Haas, Co-Leiterin Institut Alter (031 848 35 53)
Franziska Scheidegger-Balmer, Wissenschaftliche Assistierende, BSc Ernährung & Diätetik (031 848 35 88)

Gesundheitsdepartement des Kantons Basel-Stadt

Marco Oesterlin, Leiter Programm Alter und Gesundheit (061 267 46 08)
Jacqueline Fürer-Kugel, Projektmitarbeit Programm Alter und Gesundheit (061 267 45 40)