Neue Entwicklungen im Projekt «Ernährung 60 plus» – Interview mit Angelika Hayer
Claudia Kessler (CK): Das Projekt «Ernährung 60 plus» der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung (SGE) läuft nun bereits im dritten Jahr. Was gibt es für neue Entwicklungen, die für die Akteur_innen der Gesundheitsförderung im Alter von Interesse sein könnten?
Angelika Hayer (AH): Da gibt es einiges zu berichten! Nach zwei Jahren ging das Innovationsprojekt Anfang dieses Jahres in ein Multiplikationsprojekt über. Wir werden bewährte Massnahmen weiterführen und neue Schwerpunkte setzen. Neu ist, dass der Fokus vor allem auf den vulnerablen Menschen über 60 Jahren liegt.
In der ersten Projektphase konnten wir wertvolle Partnerschaften mit Organisationen und Projekten aufbauen, wie z.B. der Pro Senectute, Tavolata, Avantage oder der Spitex. Diese möchten wir weiterhin pflegen und gleichzeitig neue Partnerschaften aufbauen, insbesondere auch, um ältere Menschen mit besonderem Bedarf zu erreichen. Studien belegen, dass ernährungsbedingte Risiken und deren gesundheitliche Folgen in der Bevölkerung ungleich verteilt sind. Es gibt grosse soziale Ungleichheit beim Essverhalten. (Ältere) Menschen mit einem tiefen sozioökonomischen Status essen z. B. weniger Früchte und Gemüse, sie ernähren sich fettreicher und verwenden vermehrt ungünstige Fette. Natürlich sind das statistische Durchschnittswerte, die nicht verallgemeinert werden können. Dennoch zeigt uns das, wo der Bedarf liegt.
Deshalb erweitern wir unser Partnernetzwerk aktuell um Organisationen, wie z.B. die Caritas oder um Projekte wie z.B. AltuM (Projekt Alter und Migration, HEKS ), denn sie finden zu diesen Menschen Zugang. Wir planen auch, gemeinsam mit Partnern einen Flyer in einfacher Sprache, mit wenig Text und vielen Bildern herauszugeben. Die Zielgruppe soll darin Anregungen erhalten, wie man sich auch mit kleinem Budget oder im Rahmen der Kochgewohnheiten anderer Länder im Alter ausgewogen und genussvoll ernähren kann. Wie bisher möchten wir Multiplikator_innen dabei unterstützen, das Thema nachhaltig in ihren Angeboten und Projekten zu verankern. Die Ziele und die wichtigsten Angebote des Projekts sind kurz und knapp in unserem neuen Flyer auf der Webseite zu finden.
CK: An wen denkt ihr vor allem, wenn beim Thema Ernährung im Alter von vulnerablen Personengruppen gesprochen wird?
AH: Dies ist eine sehr heterogene Gruppe mit unterschiedlichen Bedürfnissen. Zusammen mit unseren Partnern, die in der Projektbegleitgruppe mitwirken, haben wir uns entschieden, den Fokus vor allem auf drei Gruppen zu legen:
- Einkommensschwache Personen haben bedeutend grössere Hürden, sich ausgewogen zu ernähren, da sie jeden Franken umdrehen müssen;
- Menschen, die nur eingeschränkt eine Landessprache verstehen und/ oder eine tiefe Lesekompetenz haben, erreichen wir mit umfangreichen schriftlichen Informationen und über die üblichen Kanäle erfahrungsgemäss nicht; dies kann Menschen mit Migrationshintergrund, als auch Schweizer und Schweizerinnen betreffen;
- Viele alleinstehende ältere Menschen denken, es lohne sich nicht mehr, für sich allein zu kochen und essen primär, um einfach satt zu werden. Das kann dann sehr einseitig werden, im Sinne von «ein Brot mit Confi zum Zmorge, zum Zmittag und zum Znacht».
Um die Bedürfnisse dieser Gruppen kennenzulernen und die Massnahmen entsprechend zu planen, werden wir eine Bedürfnisabklärung in Form von Fokusgruppengesprächen durchführen.
CK: Vorlieben, Abneigungen und Ernährungsgewohnheiten entwickeln sich über das gesamte Leben. Ist es möglich, das Essverhalten im Alter noch zu verändern?
AH: Das (Ess-)Verhalten hat sich über ein ganzes Leben entwickelt und ist geprägt von vielen verschiedenen Faktoren, z. B. Familie, Kultur oder Umfeld. Daher ist es verständlich, dass es sich nicht von einem Tag auf den anderen radikal verändern lässt. Um von einer ausgewogenen Ernährung zu profitieren, ist es natürlich umso besser, je früher gesunde Verhaltensweisen zur Gewohnheit werden. Zudem gilt auch: je früher, desto einfacher. Aber selbst im Alter lohnt es sich, sich gesunde Gewohnheiten anzueignen. Dazu muss die Ernährung nicht perfekt sein. Wir streben nicht an, dass alle älteren Menschen sich ideal nach Lehrbuch ernähren. Unser Ziel ist eher, Impulse für kleinere Veränderungen zu geben, die die Menschen dann auch effektiv umsetzen können. Denn schon kleine Schritte können grosses bewirken, z.B. wenn ältere Menschen auf eine ausreichende Proteinzufuhr achten oder regelmässig Wasser trinken. Unsere Anregungen müssen zum Alltag der Menschen passen. Wenn beispielsweise ein älterer Herr zum Dessert gerne Quark mit Früchten isst, dann hilft es schon, ihn zu ermutigen, dies wenn möglich öfters zu tun.
CK: Im Projekt arbeitet ihr nicht direkt mit der Zielgruppe, sondern befähigt Multiplikator_innen und sensibilisiert eure Partner_innen. Welche Anliegen sind euch dabei besonders wichtig?
AH: Uns geht es vor allem darum, den Multiplikator_innen aus dem Gesundheits-, Sozial- und Bildungsbereich Anregungen zu geben, wie sie das Thema Ernährung ohne grossen Zusatzaufwand in ihre Arbeit integrieren können. Jeder Berufsgruppe bieten sich dazu andere Anknüpfungspunkte. Nehmen wir z.B. die Spitexmitarbeitenden, welche unter einem hohen Zeitdruck arbeiten. Sie können einen Impuls geben, indem sie z. B. unser beliebtes Rätselheft mit praktischen Tipps abgeben, oder auf einen unserer Podcasts hinweisen oder zur Erinnerung ans Trinken eine Flasche Wasser hinstellen. Im letzten Jahr haben wir mehrere Webinare für Multiplikator_innen angeboten, in denen wir auf den Alltag der Teilnehmenden eingehen konnten und gemeinsam nach Möglichkeiten gesucht haben. Vor allem der Austausch zur Umsetzung im Arbeitsalltag wurde von den Teilnehmenden sehr geschätzt. Weitere Webinare mit einer Kombination von Fachinformationen und Erfahrungsaustausch sind aktuell in Planung. Ein Ziel, welches uns alle leitet, ist es, bei älteren Menschen nicht nur eine ausgewogene Ernährung zu fördern, sondern auch das genussvolle Essen, wenn möglich in Gemeinschaft. Denn die Freude beim Essen im Alter zu erhalten, oder wiederzuerlangen, ist auch der beste Schutzfaktor vor der im Alter häufigen Mangelernährung.
CK: Das tönt alles äusserst spannend. Leider können wir hier nicht auf alle Aspekte vertieft eingehen. Wie erfahren Interessierte mehr?
AH: Einerseits natürlich auf unserer Webseite und über die unten angegebenen weiterführenden Hinweise und Links.Gerne möchte ich Interessierte auch einladen, mit uns Kontakt aufzunehmen. Unser Projekt lebt durch den Austausch und die Zusammenarbeit! Gerne unterstützen wir Sie bei Bedarf fachlich. Dies kann im Rahmen unseres Dienstleistungsauftrags von Gesundheitsförderung Schweiz über das vorgestellte Projekt hinausgehen. Darüber können wir den KAP-Kantonen und Partnerorganisationen für alle Zielgruppen (also in den Modulen A und B) fachliche Unterstützung anbieten, z.B. indem wir sie bei der Erarbeitung von Ernährungsbroschüren beraten, Texte für die Webseite fachlich lektorieren oder bei Workshops und anderen Anlässen mitwirken.
All unsere Angebote stehen interessierten Partnern_innen übrigens kostenlos zur Verfügung.
Wir freuen uns auf Ihre Kontaktaufnahme: Angelika Hayer a.hayer(at)sge-ssn.ch.
CK: Vielen Dank für dieses anregende Gespräch! Ich bin sicher nicht die Einzige, die nun so richtig Appetit auf das Thema Förderung der ausgewogenen Ernährung und des genussvollen Essens im Alter bekommen hat!
Angelika Hayer ist stellvertretende Leiterin der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung SGE. Sie ist Ernährungswissenschaftlerin und verfügt über ein Diplom in der sogenannten Oecotrophologie. Als Leiterin des Projekts «Ernährung 60 plus» setzt sie sich gemeinsam mit vielen anderen für eine ausgewogene und genussvolle Ernährung bei den über 60-Jährigen ein.
Claudia Kessler von PHS Public Health Services führte das Interview im März 2022 im Auftrag von Gesundheitsförderung Schweiz.
Weitere Informationen zum Projekt «Ernährung 60 plus»:
Links zu weiteren Informationen:
- Materialien für über 60-Jährige sowie für Multiplikator_innen aus dem Projekt «Ernährung 60 plus»
- Projekt «Begleitangebot Ernährung für Menschen im Alter von 60plus»
- Praxistipps für die Ernährungskommunikation: Erfolgsfaktoren und Beispiele des Bundeszentrums für Ernährung, BZfE, Deutschland
- Verhaltensökonomischer Leitfaden und Bericht Behavioural Insights des BAG