Gesundheitsförderung mit der älteren Migrationsbevölkerung: mehr erreichen!

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Ältere Menschen mit Migrationshintergrund sind eine wichtige und wachsende Zielgruppe der Gesundheitsförderung. Bei der Umsetzung in der Praxis wird vielfach von Herausforderungen berichtet. Mit Emine Sariaslan und Corina Salis Gross teilen zwei Expertinnen ihre langjährige Erfahrung. Stimmt es, dass diese Menschen so schwer erreichbar sind? Lesen Sie das Interview.
25.03.2022, 14:23

Gemäss den Angaben des Bundesamts für Statistik hatten 2020 in der Schweiz 766’000 Personen bzw. 38% der ständigen Wohnbevölkerung ab 15 Jahren einen Migrationshintergrund. Mehr als vier Fünftel von ihnen gehören zur sogenannten ersten Generation. In der Bevölkerung 65+ entspricht der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund 13.4%, Tendenz zunehmend. Damit steigt auch die Bedeutung dieser oft speziell vulnerablen Bevölkerungsgruppen als Zielgruppe für die Gesundheitsförderung.

Unsere Interviewserie mit Schlüsselpersonen zum Thema «Diversität und Chancengleichheit im Kontext der Gesundheitsförderung im Alter» endet deshalb mit einem Beitrag zur Zielgruppe der älterwerdenden Migrationsbevölkerung.

Claudia Kessler (CK) führte das Interview im Januar 2022 mit Emine Sariaslan (ES) und Corina Salis Gross (CSG) im Auftrag von Gesundheitsförderung Schweiz.

Emine Sariaslan ist ausgebildete Sozialarbeiterin mit türkischen Wurzeln und arbeitet bei Public Health Services (PHS). Sie setzt sich in der Schweiz seit vielen Jahren für die transkulturelle Öffnung von Institutionen und Organisationen und für die Gesundheitsförderung mit der Zielgruppe der Menschen mit Migrationshintergrund ein. Sie engagiert sich auch politisch und gewerkschaftlich. So war sie z.B. lange Jahre Präsidentin der FIMM Schweiz, dem Forum für die Migrant*innen in der Schweiz. Corina Salis Gross ist von Beruf Sozialanthropologin und Psychologin. Ihr Engagement für die Gesundheitsförderung im Alter entstand in der Zeit, als sie in der Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern arbeitete und dort als Stabsmitarbeiterin in die Altersplanung involviert war. Heute leitet sie bei PHS den Bereich Diversität und Chancengleichheit. Gemeinsam mit Emine Sariaslan setzt sie verschiedene Projekte zur Gesundheitsförderung im Migrationskontext um. Ihre Arbeit in der Entwicklung und Umsetzung von Projekten steht in engem Bezug zu ihren Forschungsarbeiten am ISGF in Zürich.

CK: Verantwortliche in den kantonalen Aktionsprogrammen berichten von der Herausforderung, Zugang zu älteren Menschen mit Migrationshintergrund zu finden und sie für die Teilnahme an bestehenden Angeboten zu gewinnen. Die bekanntlich hohe Heterogenität dieser Zielgruppe erschwert die Arbeit zusätzlich. Naheliegende Gründe wie sprachliche oder kulturelle Barrieren sind bekannt. Wo liegen aus Eurer Erfahrung weitere Gründe für diese Schwierigkeiten, die uns vielleicht zu wenig bewusst sind? Wo seht Ihr Lösungen?

ES und CSG: Zuerst möchten wir darauf hinweisen, dass sich alle unsere Aussagen auf Menschen mit Migrationshintergrund aus sozial benachteiligten Schichten beziehen, denn effektiv handelt es sich um eine sehr heterogene Zielgruppe.

Bevor wir auf die Probleme eingehen, möchten wir mit der guten und vielleicht etwas provokanten Nachricht beginnen: wir finden es überhaupt nicht schwierig, diese Zielgruppe zu erreichen! Im Gegenteil: unsere Erfahrung zeigt, dass ältere Menschen mit Migrationshintergrund sich sehr gerne an Angeboten beteiligen, wenn diese ihren Bedürfnissen entsprechen.

Hauptschwierigkeiten und Lösungsmöglichkeiten sehen wir, u.a., in folgenden Bereichen:

  • Rahmenbedingungen auf der strategischen Ebene: Zwar hat sich der Stellenwert und damit auch die Finanzierung im Bereich Diversität und Chancengleichheit in der Gesundheit im letzten Jahrzehnt deutlich verbessert. Im Kontext der Pandemie hat das Thema Chancengleichheit nochmals an Bedeutung gewonnen und wir alle haben viel dazu gelernt. Auf der kantonalen Ebene und in den Anbieterorganisationen wird das Ziel der Chancengleichheit jedoch noch nicht konsequent umgesetzt. Damit sich auf der operativen Ebene etwas bewegt, muss man vom Kanton, von der Steuerungsebene aus denken. Wir empfehlen, dass die Angebotsverantwortlichen aktiv den Kontakt zu den strategischen Verantwortlichen suchen, Sensibilisierungsarbeit leisten und sie zu Anlässen einladen. Der direkte Kontakt mit Menschen aus der Zielgruppe hilft, gegenseitiges Verständnis aufzubauen. Weshalb enthält z.B. nicht jede Leistungsvereinbarung oder jeder Finanzierungsvertrag eine Vorgabe, dass Angebote diversitätsgerecht konzipiert und umgesetzt werden müssen? Eine derartige Vorgabe in Kombination mit den nötigen Mitteln würde uns helfen, einen grossen Schritt vorwärtszukommen. Gesundheitsförderung kostet jedoch nicht nur auf der Ebene der Institutionen, sondern auch auf der Ebene der Personen. Viele ältere Menschen, die am meisten davon profitieren könnten, können sich die Teilnahme an den Angeboten nicht leisten. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass bereits 5 Franken eine zu hohe Teilnahmehürde darstellen können. Deshalb müssen Möglichkeiten geschaffen werden, damit armutsbetroffene Menschen unabhängig von der Nationalität kostenfrei oder mit einer Kostenübernahme durch Dritte niederschwellig an Angeboten teilnehmen können.
  • Bilder in den Köpfen: Einerseits gilt es die gesellschaftlichen Bilder zu revidieren, dass Migrant*innen im Alter vor allem Kosten verursachen und nicht auf ihre Gesundheit achten. Max Frisch hat es bereits treffend benannt: «Wir haben Arbeitskräfte gerufen, es sind Menschen gekommen». Diese Menschen haben oft ein Leben lang körperlich hart gearbeitet und für viele stellt die Migrationserfahrung eine Quelle hoher und langandauernder psychischer Belastung dar. Dass sie im Alter schlechtere Gesundheitsindikatoren als die Durchschnittsbevölkerung haben, ist belegt. Gleichzeitig ist ihr gesellschaftlicher Beitrag über die Lebensspanne zu sehen: sie arbeiten, zahlen Steuern, zahlen Krankenkassenprämien, etc. Sie haben ein Anrecht auf eine chancengleiche Gesundheitsförderung und-versorgung im Alter. Neben den verzerrten gesellschaftlichen Bildern gibt es auch Bilder in den Köpfen der Menschen selbst, die zu berücksichtigen sind. Nach einem harten Arbeitsleben möchten sich viele ältere Migrant*innen Traditionen in den Herkunftsländern entsprechend zurücklehnen und sich von ihrer Familie umsorgen lassen. Um an diesen Bildern arbeiten zu können, ist es deshalb (zu) spät, die Gesundheitsförderung erst ab 65 Jahren zu beginnen. Unabhängig von einem allfälligen Migrationshintergrund lassen körperlich schwere Arbeit und Armutsbetroffenheit die Menschen früher altern. Die betriebliche Gesundheitsförderung sollte deshalb auch Menschen auf Baustellen, in Putzinstituten oder Küchen und Spitälern erreichen und muss unbedingt vor der Pensionierung einsetzen.
  • Flexibilität und Öffnung der Anbieter-Organisationen: Ohne grössere Anpassungen und Öffnungen der Regelstrukturen wird es nicht gelingen, diese Zielgruppen zu erreichen. Da sollten wir uns keine Illusionen machen. Wir müssen Setting-orientiert arbeiten und bereit sein, Angebote dann zu offerieren, wenn die Leute Zeit haben, und dort, wo sie sich treffen, zum Beispiel in ihren Vereinen und religiösen Institutionen. Oft bedeutet dies Einsätze am Wochenende oder an den Abenden. Es braucht Mitarbeitende, die aufsuchend arbeiten und bereit sind, das Verhältnis von Büroarbeit und Arbeit in den Quartieren und Vereinen neu zu denken: warum nicht 20% im Büro und den Rest bei den Leuten? Die Fachpersonen müssen wegkommen von einem «9 to five/ 5 Tages-Woche Denken». So arbeiten auch wir. Als «Entschädigung» wird, so unsere Erfahrung, die Arbeit viel befriedigender und «vielfältiger». Ganz wichtig ist auch die Bereitschaft, den älteren Menschen mit Migrationshintergrund und aus anderen vulnerablen Bevölkerungsgruppen zuzuhören und die Antworten und Lösungen gemeinsam mit ihnen zu finden. Es braucht entsprechende Schulungen und Haltungsfindungsprozesse in den Anbieterorganisationen.

CK: Heisst das, dass die Verantwortlichen in den KAPs und Projekten nur «migrationsgerecht» arbeiten können, wenn sie ein grosses Zusatzbudget für Zielgruppen-spezifische Angebote, für Kommunikation in vielen Migrationssprachen und idealerweise für Mitarbeitende mit eigenem Migrationshintergrund haben?

ES und CSG: Nicht nur! Natürlich braucht es gewisse zusätzliche personelle und finanzielle Ressourcen, um die spezifischen Bedürfnisse dieser älteren Menschen bedienen zu können. Aber oft braucht es viel weniger als man denkt. Wir können ein paar Beispiele von praxisbewährten Tipps geben, wie man mit wenig Ressourcen schon viel bewegen kann:

  • Über Vereine und religiöse Gemeinschaften arbeiten: unsere Erfahrung zeigt, wie wichtig die lebensweltlich und Setting-orientierte Arbeit ist. Wenn es gelingt, ein Vertrauensverhältnis zu den Vereinen und religiösen Gemeinschaften aufzubauen, läuft der Rest fast von allein und die Fachstellen werden aufgesucht. Diese Institutionen stellen für Migrant*innen eine Art «alternative Heimat» dar und sind oft sehr gut organisiert. Zudem wissen die Mittler, über welche Kommunikationskanäle man «ihre Leute» am besten erreicht und helfen gerne dabei, Informationen über ein Angebot in der angestrebten Nutzergruppe zu disseminieren. Unsere Erfahrung zeigt, dass es für die Mitwirkung der Schlüsselpersonen auf der Mittler-Ebene ein kleines Budget braucht, welches in Leistungs- und Projektverträgen einkalkuliert werden sollte. So können Beiträge der Mittler gewürdigt und allfällige Aufwände entschädigt werden. Zudem ist die Zusammenarbeit so für beide Seiten verpflichtender und stärker auf Augenhöhe.
  • Universelle, diversitätsgerechte Angebote entwickeln: Es braucht nicht entweder «Zielgruppen-spezifische» oder «universelle» Angebote. Es braucht die Kombination von beiden Angebotstypen, wenn wir das «Gros» dieser Menschen erreichen wollen. Dafür bieten sich Angebote an, bei denen das gesprochene oder geschriebene Wort eine weniger gewichtige Rolle spielt. Wenn z.B. informelle Spaziergruppen oder Spiel- oder Tanznachmittage gemeinsam mit Schlüsselpersonen der Migrant*innengemeinschaften geplant und angeboten werden, dann fördert das nicht nur Bewegung und Begegnung zwischen älteren Menschen, sondern auch Spass und Lernen für alle Beteiligten. Es braucht nicht immer teure Filme und Produkte: kurze, mit wenig Ressourcen produzierte YouTube-Videos können im Migrationskontext gut über Social Media Kanäle wie WhatsApp disseminiert werden und erreichen erfahrungsgemäss viele ältere Menschen. Wenn die Verbreitung über die Mittler läuft, braucht es auch nicht immer eine Uebersetzung in Dutzende Sprachen. Von zentraler Wichtigkeit ist dabei die partizipative Entwicklung der Angebote und Produkte mit der Zielgruppe.

CK: Gibt es Themen der Gesundheitsförderung im Alter, welche ältere Menschen mit Migrationshintergrund besonders interessieren?

ES und CSG: Unsere Erfahrung zeigt, dass die Grundthemen Ernährung, Bewegung und Sturz sowie psychische Gesundheit diese Zielgruppen ebenfalls interessieren. So ist zum Beispiel das Interesse an Themen der psychischen Gesundheit wie z.B. Depression, Demenz oder Traumatisierung gross. Unterschiede finden sich eher bei den vielfach noch bestehenden Wissensdefiziten. Speziellen Bedarf gibt es zu Themen, wie z.B. Austausch über Rassismus Erfahrungen, Wissensvermittlung zu den Rechten älterer Menschen oder die Förderung der Kenntnisse und des Zugangs zu den Unterstützungsangeboten. Erfahrungsgemäss geht es jedoch weniger um Fragen des «was?» als des «wie?». Antworten auf all diese Fragen findet man gemeinsam, wenn sich beide Seiten auf den Austausch einlassen.

Links zu weiterführenden Informationen:

  • Chancengleichheit in Gesundheitsförderung und Prävention; Bewährte Ansätze und Erfolgskriterien (Gesundheitsförderung Schweiz, 2020): Link
  • Projekt MIGA Migrant*innen leben gesund im Alter durch ausgewogene Ernährung und Bewegung sowie Sturzprävention:Link
  • Projekt Migrant*innen leben gesund im Alter: Alkoholprävention und Stärkung der Gesundheitskompetenz: Link