Gesundheitsförderung bei älteren Menschen

Die Inklusion von Menschen mit Behinderungen fördern: Interview mit Helena Bigler

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Helena Bigler leitet die Fachstelle «Procap bewegt» und ist bei Procap Schweiz zuständig für Fragen der Gesundheitsförderung bei Menschen mit Behinderungen. Im Interview spricht sie über zentrale Herausforderungen bei der Inklusion und zeigt das Kooperationspotenzial zwischen den Akteur_innen der Gesundheitsförderung (im Alter) und des Behindertenbereichs auf.
27.03.2023, 11:55

Claudia Kessler (CK): In dieser Interviewserie geht es vor allem um Fragen der Gesundheitsförderung bei verschiedenen Untergruppen der älteren Bevölkerung. Wofür steht die Organisation Procap und mit welcher Zielgruppe arbeitet ihr?

Helena Bigler (HB): Procap ist eine seit über 90 Jahren bestehende nationale Dachorganisation mit Sitz in Olten. Wir sind der grösste Mitgliederverband von und für Menschen mit Behinderungen in der Schweiz1. Unsere Selbsthilfeorganisation zählt heute rund 24'000 Mitglieder in knapp 40 regionalen Sektionen und 30 Sportgruppen. In den Vorständen der regionalen Sektionen sind immer auch Selbstbetroffene beteiligt. Procap arbeitet zudem mit vielen Freiwilligen.

Aus einem Projekt entstand mit Unterstützung des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) eine institutionell verankerte Dienstleistung, in welcher Gesundheit und Gesundheitsförderung zentrale Pfeiler darstellen. Seit 2011 ist «Procap bewegt» die Fachstelle für Gesundheit, Bewegung und Ernährung für Menschen mit Handicap. Wir bieten Freizeitangebote sowie Gesundheitstipps, beraten Institutionen und setzen uns für die Gesundheitsförderung von Menschen mit Handicap ein. Neben unseren Angeboten für die Zielgruppe setzen wir uns politisch vor allem für eine bessere Gleichstellung und gesellschaftliche Integration ein.

CK: Inwiefern sind ältere Menschen eine Zielgruppe für Procap?

HB: Das Alter der Personen ist für unsere Arbeit kein ausschlaggebendes Kriterium. Im Zentrum stehen bei uns Menschen mit Behinderungen – unabhängig des Alters oder der Frage, wo sie leben, denn ab dem Erwachsenenalter leben auch einige von ihnen in Institutionen und betreuten Wohnsituationen. Allerdings werden Menschen mit Behinderungen dank der Frühförderung und den sozialen und medizinischen Fortschritten heute älter als früher. Deshalb stellt sich vermehrt die Frage: Wohin gehen sie nach der Pensionierung? Sollen sie in ihrer Institution bleiben oder in ein Alters- oder Pflegeheim wechseln? Zudem gilt es zu beachten, dass diese Menschen oft einen beschleunigten Alterungsprozess erleben und beispielsweise schon in jüngeren Jahren an mehreren chronischen körperlichen Erkrankungen oder Demenz leiden.

Diese Faktoren haben zur Folge, dass unsere Angebote schlecht in die Konzepte von Gesundheitsförderung Schweiz oder der kantonalen Aktionsprogramme passen und wir auch nicht optimal anschlussfähig sind an die Angebote von Organisationen wie z.B. der Pro Senectute. Eine Altersdefinition mit Schnittpunkt > 65 Jahre ergibt für unsere Zielgruppe keinen Sinn. Wir gehen in erster Linie von den Fragen aus: Was können die Leute? Wie selbständig sind sie? Wie können sie sich z.B. bewegen? Wir arbeiten also stärker mit einem Setting-Ansatz als zielgruppen-spezifisch.

CK: Welches ist aktuell die «politisch korrekte» Terminologie, mit der diese Menschen bezeichnet werden möchten?

HB: Wir sprechen im Alltag von «Menschen mit Behinderungen» oder synonym «Menschen mit Handicap». Die Bezeichnung «Menschen mit Beeinträchtigung» ist in den Sozialwissenschaften gebräuchlich. Der Begriff «Menschen mit speziellen Bedürfnissen» ist aus unserer Sicht zu unpräzise. Da fallen auch andere Zielgruppen darunter. Wichtig ist, immer den Plural zu wählen - also «Menschen mit Behinderungen», da die meisten Menschen mit verschiedensten Behinderungen/Barrieren konfrontiert sind. Man sollte auch nicht mehr von «behinderten Menschen» sprechen. Und gänzlich vermeiden sollte man den stigmatisierenden Begriff «invalid».

CK: Von wie vielen älteren Menschen mit Behinderungen gehen Sie in der Schweiz aus?

HB: Diese Frage stellen auch wir uns immer wieder. Das Bundesamt für Statistik führt Zahlen zu «Menschen mit Behinderungen» und der Untergruppe «Menschen mit schwerer Beeinträchtigung». Das Total wird nur nach Kindern einerseits und Erwachsenen ab 16 Jahren differenziert. Zahlen für die über 65-Jährigen gibt es nur zu den Menschen in Alters- und Pflegeheimen. Dabei werden natürlich die Menschen, die schon seit jungen Jahren mit Behinderungen lebten und Menschen, die wegen Altersgebrechen eingeschränkt sind, zusammengenommen. Procap geht davon aus, dass – inklusive der Altersgebrechlichkeit – zwischen 10 und 20 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz in irgendeiner Form beeinträchtig ist, respektive mit Behinderungen lebt. Die Definitionsfrage, wer dazugezählt werden soll und wer nicht, ist nicht gelöst. Uns wäre es ein grosses Anliegen, mit den Behörden und Organisationen diese Zahlenfrage präziser zu klären. Auch sollte die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen bei den nationalen Gesundheitsbefragungen angegangen werden. Letztere basiert auf telefonischen Erhebungen von Personen, die zuhause leben. Wenn jemand in einer Institution lebt oder nicht selbst antworten kann, führt das zu einer erheblichen Verzerrung bei den Daten (selection bias und mangelnde Repräsentanz von Menschen mit Behinderungen). Solange wir keine guten Zahlen haben, haben wir auch kein gutes Argumentarium, wenn es um Finanzierungsfragen geht.

CK: Kommen wir nun zur Gesundheitsförderung: gibt es in diesem Bereich bei Menschen mit Behinderungen einen spezifischen Bedarf?

HB: Wir haben den wichtigen Aspekt der vorzeitigen Alterung bereits angeschnitten. Der Bedarf dieser Menschen nach Unterstützung zur Förderung der Gesundheit ist klar erhöht. Nationalrat Christian Lohr hat das treffend ausgedrückt: «Menschen ohne Behinderung sollten Sport treiben; Menschen mit Behinderung müssen Sport treiben». Das gilt noch stärker für die Bewegungsförderung und die Bereiche Ernährung und psychische Gesundheit. Die Prävention im Sinne eines möglichst langen Erhalts der körperlichen und geistigen Fähigkeiten ist bei unserer Zielgruppe noch wichtiger als bei der Durchschnittsbevölkerung. Im «Korsett» ihrer Behinderungen führen viele Menschen mit Behinderungen schon in jungen Jahren einen eher sedentären Lebensstil – denken wir z.B. an Menschen im Rollstuhl, Menschen mit Sehbeeinträchtigungen, etc. Adipositas und Übergewicht sind häufige Probleme dieser Menschen, besonders, wenn sie in Institutionen leben. Die Gesundheitsförderung und Prävention muss möglichst früh ansetzen und auf die individuellen Möglichkeiten und Bedürfnisse ausgerichtet werden, um verhinderbare Zusatzeinschränkungen körperlicher oder psychischer Art möglichst zu vermeiden. Denn wenn Menschen ständig Einschränkungen erleben und früh an ihre Grenzen stossen, dann hat das selbstverständlich auch Folgen für die psychische Gesundheit.

Wir wissen heute, dass eine verbesserte Frühförderung von Kind an sich positiv auf die Lebensqualität und die Lebenserwartung der Betroffenen auswirkt. Deshalb fordern wir seit vielen Jahren im Sinne der Chancengleichheit, dass Menschen mit Behinderungen als Zielgruppe der Gesundheitsförderung wahrgenommen werden und mehr Gewicht erhalten. Wir haben mit der Gesundheitsförderung also viele gemeinsame Anliegen.

CK: Nun stellt sich die gleiche Frage, die sich immer stellt, wenn es um Personengruppen mit spezifischen Bedürfnissen geht: braucht es spezifische Angebote für Menschen mit Behinderungen oder soll das Ziel eine bessere Integration in die Regelangebote sein?

HB: Menschen mit Behinderungen brauchen nicht primär eigene, spezifische Angebote, sondern individuelle Anpassungen der Angebote im Regelsystem an ihre Behinderungen. Das sind ähnliche Aspekte, wie sie in der Gesundheitsförderung im Hinblick auf eine bessere Chancengleichheit gefordert werden – so z.B. Unterstützung für niederschwellige Zugänge, einfache Sprache, oder – ganz wichtig – die Möglichkeit, Angebote mit einer Begleitperson nutzen zu können (siehe Checkliste Diversität und Chancengleich in der Linksammlung am Ende des Beitrags). Es braucht also nicht neue Angebote, sondern neue Mechanismen der Projektplanung- und Umsetzung. Jedes Angebot oder Projekt sollte von Beginn an auch die Menschen mit Behinderung mitdenken und die Frage klären, wie der Zugang dieser Menschen zum Angebot ermöglicht werden kann. Fachpersonen aus dem Behindertenbereich und Selbstbetroffene sollten involviert werden. Dies entspricht dem Anliegen der Inklusionsbewegung, die sich grundsätzlich an der gesellschaftlichen Diversität – nicht nur an der Frage Menschen mit und ohne Behinderung – ausrichtet.

CK: Können Sie uns ein paar konkrete Beispiele für Angebote von Procap zur Gesundheitsförderung geben, die sich an eher ältere Menschen mit Behinderungen richten?

HB: Wir engagieren uns z.B. für hindernisfreie Wanderwege oder bieten Zugangsinformationen zu Schwimmbädern an. Daneben sind unsere Treffpunkte auch eine Plattform mit Angeboten zur Freizeitbegleitung. Betroffene können sich melden, wenn sie Unterstützung oder Begleitung wünschen. Dies kann z.B. für einen Spaziergang oder eine Wanderung sein, den Besuch im Schwimmbad oder zur Pflege sozialer Kontakte. Aber auch andere Angebote sind für ältere Menschen attraktiv. So fördert unser Reiseangebot die Bewegung und Begegnung für jüngere und ältere Menschen mit Behinderungen. Und auch die Organisationen und Institutionen im Behindertenbereich machen viel im Freizeitbereich und zu den bereits erwähnten Integrationsbestrebungen. Allerdings liegt ihr Fokus eher auf Aspekten der Prävention. Die Gesundheitsförderung im Sinne des salutogenetischen Ansatzes2, welcher von Gesundheitsförderung Schweiz und anderen Akteuren in diesem Bereich gefördert wird, ist bei vielen dieser Organisationen noch nicht angekommen. Dabei liesse sich oft mit wenigen Mitteln viel machen. So würden sich in den Institutionen etwa Abläufe der Alltagsgestaltung einfach anpassen lassen, wenn sie nicht auf Effizienz ausgerichtet wären. Ein kleines Beispiel: Ich kenne Gruppen, die einmal pro Woche gemeinsam zur Abfallentsorgungsstation spazieren und damit nicht nur die PET- und Glasflaschen entsorgen, sondern auch in Bewegung kommen. Inklusionsmöglichkeiten gäbe es auch, wenn Fitnesszentren von Behinderteninstitutionen für ältere Menschen ohne Behinderungen geöffnet oder über die Freiwilligenarbeit ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen in gemischten Gruppen in einen gesundheitsförderlichen Kontakt gebracht würden.

Es ist ein grosses Anliegen von Procap, die Verbindung zwischen den Organisationen im Behindertenbereich und den Kampagnen, Strategien und Akteuren der Gesundheitsförderung herzustellen.

CK: Was braucht es aus Ihrer Sicht für diesen Brückenschlag?

HB: Es braucht einerseits eine bessere Sensibilisierung für die Belange der Gesundheitsförderung bei den Akteuren im Behindertenbereich. Für diese Institutionen bieten wir Schulungen zur Gesundheitsförderung an. Über unsere Beratungsangebote haben wir Kontakt mit Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungen. Es gibt viel Potenzial, die Gesundheitsförderung oder Gesundheitsberatung in diese Kontakte und unsere Programme zu integrieren. Dieses Potenzial liegt aber weitgehend brach, weil wir heute dazu keinen dementsprechenden Auftrag haben. Umgekehrt sollten auch die Akteure der öffentlichen Gesundheit und der Gesundheitsförderung für die Belange der Menschen mit Behinderungen verstärkt sensibilisiert werden. Wir haben dazu eine Schulung für Gesundheits-Fachpersonen entwickelt. Allerdings konnten wir sie bisher wegen fehlendem Interesse noch nicht umsetzen.

Unser Fokus auf die Bedürfnisse und den Bedarf der Menschen erschwert wiederum die Finanzierungsfrage unserer Arbeit und der Angebote enorm. Ein wichtiger Schritt sollte deshalb die Berücksichtigung von Menschen mit Behinderungen in den Vergabekriterien der Finanzierungsmechanismen für die Gesundheitsförderung sein. Paradoxe und oft hinderliche Finanzierungsschubladen bei den Geldgebenden sollten realitätsnäher ausgestaltet werden. Wir erhalten wie erwähnt Gelder vom EGBG, dem BSV oder aktuell dem BASPO für eingereichte Projekte. Damit können wir auf der strukturellen Ebene über die verschiedenen Integrationsmassnahmen gesundheitsfördernd wirken. Über diese Gelder können wir jedoch keine Angebote der Gesundheitsförderung auf der Verhaltensebene (gesunder Lebensstil) finanzieren, die z.B. auch Menschen mit Behinderungen zuhause zugutekommen. Nicht nur geldgebende Organisationen, sondern auch die grossen Altersorganisationen sollten sich deshalb vermehrt für Menschen mit Behinderungen öffnen und mehr Flexibilität im Sinne eines Lebensphasen- statt eines Altersgruppen- Ansatzes aufweisen. Es darf nicht sein, dass Menschen mit Behinderungen mit dem Pensionierungsalter zwischen die Bänke fallen, weil die organisationalen Zuständigkeiten in der Schweiz nicht zweckmässig aufeinander abgestimmt sind. Behinderung ist ein Kontinuum. Natürlich sind diese Akteure dann zum Teil stärker gefordert mit dem zusätzlichen Anspruch nach einer behindertengerechten Gesundheitsförderung. Aber genau da können wir von Procap mit unseren Erfahrungen als Brückenbauerin ansetzen.

Wir würden uns freuen, wenn unsere Fachleute frühzeitig bei der Entwicklung von Angeboten und Programmen beigezogen würden, um die Möglichkeiten und Grenzen von Menschen mit Behinderung mitzudenken. Im Austausch können Fachpersonen der Gesundheit und Fachpersonen im Behindertenbereich viel voneinander lernen und gemeinsam das Anliegen der Inklusion vorwärtsbringen. Denn gerade in Seniorengruppen beteiligen sich auch viele ältere Menschen mit Behinderungen – ohne als solches benannt zu werden, was auch sinnvoll ist. Ziel kann und muss es nicht sein, alle Angebote für alle zu öffnen. Aber es muss ein Ziel sein, für alle (älteren) Menschen bedürfnisgerechte Angebote zur Gesundheitsförderung anbieten zu können. Im Sinne der Ressourcenorientierung müssen wir nicht von der Frage «welche Behinderungen hat eine Person?» ausgehen, sondern uns vielmehr fragen: «Was sind die Möglichkeiten der Person und welche Lebenskompetenzen können gefördert werden?».

Ideen haben wir also viele und wir freuen uns auch über kleine Schritte wie zum Beispiel dieses Interview! Wir hoffen auf einen regen Austausch mit den Akteur_innen und Organisationen der Gesundheitsförderung und auf Anfragen zur Umsetzung unserer Schulung. Unsere Angebote können passgenau und in Zusammenarbeit mit Selbstbetroffenen auf den Bedarf der jeweiligen Organisation zugeschnitten werden (von 3 Stunden bis zu einer ganztägigen Schulung).

CK: Vielen Dank für dieses interessante Gespräch. Ich hoffe sehr, dass wir über diesen Beitrag möglichst viele Akteure der Gesundheitsförderung erreichen und für diesen Brückenschlag gewinnen können!

 

1 Zum Verständnis: Procap ist eine Selbsthilfe- und Mitgliederorganisation im Unterschied zur bedeutend grösseren Organisation «Pro Infirmis», die eine reine Fachorganisation ist.

2 Der salutogenetische Ansatz nach Antonovsky bezeichnet den individuellen Entwicklungs- und Erhaltungsprozess von Gesundheit. Nach diesem Konzept ist Gesundheit nicht als Zustand, sondern als Prozess zu verstehen. Die Arbeit nach diesem Ansatz knüpft an gesunde Faktoren und Lebensumstände von Einzelnen, Gruppen und sozialen Settings an.

 

Helena Bigler leitet das Ressort Reisen und Sport bei Procap und ist damit auch verantwortlich für das Thema «Gesundheit, Bewegung und Ernährung für Menschen mit Handicap» (https://www.procap-reisen.ch/gesundheit/). Ihr Bildungshintergrund mit einem Studium in Sport und Geografie und einer Weiterbildung in Gesundheitsförderung gibt ihr für diese Tätigkeiten den idealen «Rucksack».

Claudia Kessler von PHS Public Health Services führte das Interview im Dezember 2022 im Auftrag von Gesundheitsförderung Schweiz.